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Tarife mit betragsmäßig festgelegtem Selbstbehalt

Stellungnahme der Vereinigung unabhängiger Treuhänder für die private Krankenversicherung e.V.

Fassung 31.03.2016

  1. Um einen ausreichenden Versicherungsschutz bei bezahlbaren Prämien zu bieten, sowie nach Möglichkeit den Kostenaufwand zu senken und Einfluss auf das subjektive Risiko zu nehmen, werden in der Privaten Krankenversicherung Tarife mit einer Eigenbeteiligung des Versicherungsnehmers angeboten. Üblich sind Tarife mit einer absoluten und/oder prozentualen Selbstbeteiligung. Wird ein prozentualer Eigenbehalt durch einen Höchstbetrag limitiert, so wird auch in diesem Fall ein Selbstbehalt betragsmäßig eindeutig festgelegt. Die etwa im Bereich der Hilfsmittel anzutreffenden Erstattungshöchstgrenzen ziehen zwar ebenfalls bei Überschreiten einen Selbstbehalt des Versicherten nach sich, jedoch sind diese Selbstbehalte keineswegs betragsmäßig festgelegt. Für eine Änderung eines derartigen Höchstsatzes bedarf es einer Leistungsanpassungsklausel oder einer Begründung auf der Basis von § 203 Abs. 3 VVG.

    Mit der Einführung der Versicherungspflicht ab 1.1.2009 werden gemäß § 193 Abs. 3 VVG je neuversicherte Person die Auswirkungen tariflich vorgesehener absoluter und prozentualer Selbstbehalte für ambulante und stationäre Leistungen auf 5.000 € kalenderjährlich begrenzt. Für beihilfeberechtigte Personen gilt ein sich am durch die Beihilfe nicht gedeckten Erstattungssatz orientierender entsprechender Höchstbetrag.

    Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich allein auf die Änderung absoluter Selbstbehalte.

     
  2. Absolute Selbstbehalte beschränken sich im Wesentlichen auf den Bereich der ambulanten Behandlung oder auf Kompakttarife, selten auf stationäre Tarife. Für die Versicherten bedeuten sie eine überschaubare Selbstbeteiligung an den Krankheitskosten bei Abdeckung ruinbedeutender Großschäden. Der Versicherungsnehmer entscheidet sich i.d.R. bewusst für eine gewisse Selbstbehaltshöhe unter Einschätzung seiner finanziellen Möglichkeiten und seines persönlichen Risikos (vgl. [1], [2]), so dass ein Interesse des Versicherten an der Aufrechterhaltung der Wirkung des Selbstbehaltes und der Auswirkungen auf die Prämie angenommen werden darf.

    Für den Versicherer ergibt sich (zum Vorteil der Versicherten)
    • eine Ausschaltung der Bagatellschäden in der Leistungspflicht,
    • eine Senkung des Verwaltungsaufwandes,
    • ein positiver Einfluss auf das subjektive Risiko.

Diese Zielsetzung lässt sich jedoch nur verwirklichen, wenn der Selbstbehalt für den Versicherten spürbar ist und spürbar bleibt und nicht durch eine anderweitige Absicherung unterlaufen werden kann.

Tarife mit absoluten Selbstbehalten weisen im Vergleich zu anderen Tarifen Besonderheiten auf, denen bei der Kalkulation und Nachkalkulation Rechnung getragen werden muss (vgl. [1]):

  1. Mit steigendem Selbstbehalt werden die Profile „steiler“.
  2. Unter dem Einfluss der Kostensteigerung verändert sich das Profil im Laufe der Jahre: Es wird „flacher“, sofern der Selbstbehalt nicht verändert wird.
  3. Tarife mit absolutem Selbstbehalt haben i.d.R. höhere Kostensteigerungen als „normal“ zu verzeichnen. Diese Überproportionalität ist um so stärker, je höher der Selbstbehalt ist.

Es sei angemerkt, dass diese Besonderheiten auch für Tarife mit prozentualen und durch Höchstbetrag begrenzten Selbstbehalten gelten, wenngleich in geminderter Form.

 

  • Durch die Entwertung haben niedrige Selbstbehalte heute weitgehend den o.a. Sinn und Zweck verloren, wenngleich diese Tarife für den Markt und damit das Neugeschäft weiterhin große Bedeutung haben. Höhere Selbstbehalttarife „leiden dagegen unter der Kostensteigerung“ stärker als Normaltarife.

    Um bei anhaltender Geldentwertung, Steigerung der Lebenshaltungskosten und Krankheitskosteninflation den Sinn und Wert der Selbstbehalte zu erhalten, können sie im Zusammenhang mit Beitragsanpassungen entsprechend geändert werden:

    Gemäß § 155 Abs. 3 Satz 3 VAG und (seit 1.1.2008) § 203 Abs. 2 Satz 2 VVG „darf“ bei einer Anpassung der Prämien „auch ein betragsmäßig festgelegter Selbstbehalt angepasst werden“, „um die bei der Kalkulation berücksichtigte prämienmindernde Wirkung des Selbstbehaltes in ihrem Wert zu erhalten“ (Begründung zum Gesetzesentwurf). Eine entsprechende Regelung findet man in § 8 b Abs. 1 AVB (MB/KK): „Unter den gleichen Voraussetzungen“ (Abweichung der erforderlichen von den in den technischen Berechnungsgrundlagen kalkulierten Versicherungsleistungen und Sterbewahrscheinlichkeiten um mehr als dem tariflich festgelegten Vomhundertsatz) „kann auch eine betragsmäßig festgelegte Selbstbeteiligung angepasst ... werden“.

    Während jedoch sowohl VAG („soweit der Vertrag dies vorsieht.“) als auch VVG („soweit dies vereinbart ist.“) vertragsrechtliche Vorbehalte machen, ist ein entsprechender einschränkender Zusatz in den AVB, die stets Vertragsbestandteil sind, nicht vorhanden. Damit ist die Möglichkeit einer Änderung betragsmäßig vereinbarter Selbstbehalte auch vertragsrechtlich abgesichert.

    Offensichtlich wird eine Erhöhung u.a. der absoluten Selbstbehalte vom Gesetzgeber zugelassen. Während jedoch die Regelung zur Prämienüberprüfung in § 155 Abs. 3 VAG restriktiv ist, handelt es sich bei der Anpassung betraglich festgelegter Selbstbehalte und damit auch der absoluten Selbstbehalte um eine „Kann-Klausel“. Bleibt ein absoluter Selbstbehalt über einen längeren Zeitraum unverändert, so
    • wird die prämienmindernde Wirkung nach und nach geringer,
    • lässt der Einfluss auf das subjektive Risiko nach,
    • steigt eventuell der Verwaltungsaufwand.

Zunehmend wird es darüber hinaus zu Umtarifierungen in Tarife mit höherem Selbstbehalt kommen, falls diese vom Unternehmen angeboten werden. Es erscheint in diesem Zusammenhang fraglich, ob die mehr oder weniger häufige Einführung von Tarifstufen mit jeweils höherem Selbstbehalt, um den Versicherten insbesondere nach Beitragserhöhungen Entlastung durch Umtarifierung anzubieten, eine auf Dauer vernünftige Alternative bietet, abgesehen davon, dass diese Möglichkeit durch § 193 Abs. 3 VVG ab 1.1.2009 eingeschränkt wird (s.o.). Die dadurch möglicherweise entstehenden Risikoentmischungen in den Stufen mit niedrigem Selbstbehalt „bestrafen“ den verbleibenden Bestand, da für ihn zunehmend der Ausgleich durch gute Risiken fehlt. Andererseits gibt man dem Versicherten so die Möglichkeit, „seine“ Selbstbehalt - Prämien - Relation weiterhin selbst zu bestimmen.

 

  1. Die für einen Tarif geltenden betragsmäßig festgelegten Selbstbehalte werden in den AVB (i.d.R. AVB Teil III) angegeben, da sie Vertragsbestandteil sein müssen.

    Die Änderung von Selbstbehalten ist untrennbar verbunden mit einer Prämienänderung im Zuge einer Beitragsanpassung. Bei einer Nachkalkulation mit Anpassung des Selbstbehaltes ist zunächst diese Änderung festzulegen, da erst dann die neuen Kopfschäden bestimmt werden können. Bei der Festlegung dieser Änderung (i.d.R. Erhöhung) ist wegen ihres Einflusses auf die Kopfschäden und damit auf die neuen Beiträge wie bei allen anderen der Beitragskalkulation zugrunde liegenden Daten und Verfahren die Angemessenheit zu fordern. Diese Angemessenheit muss durch den mathematischen Treuhänder geprüft und festgestellt werden. Gemäß § 203 Abs. 2 Satz 4 VVG gilt seine Zustimmung für Prämienänderung und Selbstbehaltänderung gleichermaßen.

     
  2. Gemäß § 155 Abs. 3 VAG dürfenbetragsmäßig festgelegte Selbstbehalte im Zuge einer Beitragsanpassung angepasst werden, es besteht jedoch kein Zwang, sondern nur ein Recht dazu. Damit verbleibt dies letztlich in der Entscheidung des Unternehmens. Da somit sowohl die Selbstbehalterhöhung Null, wie auch jede in einem aktuariellen Sinn gerechtfertigte Maximalerhöhung zulässig ist, besteht hier ein sinnvoller und auch erforderlicher Spielraum. Beispielsweise muss eine geschäftspolitische Orientierung an den Marktgegebenheiten auch im Interesse des Bestandes (Neuzugang) zugelassen werden. Weiterhin kann eine starre Anhebung auf der Basis etwa der Kostensteigerung (Grundkopfschadensteigerungen) zu Unzumutbarkeiten insbesondere im Bereich hoher Selbstbehalte führen: Steigen beispielsweise bei einem hohen Selbstbehalt Prämien und Selbstbehalt um 25%, so kann die Selbstbehalterhöhung durchaus die möglichen Eigenkosten des Versicherten unzumutbar steigern. Da bei großen Selbstbehalten die Prämien niedrig sind, erscheint eine Anhebung des Selbstbehaltes dann etwa um 10% und eine zugehörige Prämienerhöhung von 30% oft verträglicher.

    Letztlich sollte auch der psychologische Effekt beim Versicherten (Erhöhung von Prämie und Selbstbehalt) nicht unerwähnt bleiben.

    Grundsätzlich ist eine begründete und zielorientierte Festsetzung der jeweiligen Erhöhung erforderlich. Sinnvoll erscheint unter Berücksichtigung der ursprünglichen Intentionen der Versicherten, mit denen sie genau einen bestimmten Selbstbehalt unter Einschätzung ihres Bedarfes und ihrer finanziellen Möglichkeiten abgeschlossen haben, eine Orientierung an der Steigerung der Lebenshaltungskosten, an der durchschnittlichen Einkommensentwicklung oder an der den tariflichen Leistungen entsprechenden durchschnittlichen Kostensteigerung. Eine Erhöhung des Selbstbehaltes wäre auch dann als gerechtfertigt zu bezeichnen, wenn die relative Steigerung mit der relativen Steigerung der Erstattung i.w. übereinstimmt, da dann die bekannte Überproportionalität der Kostensteigerung vermieden wird (vgl. [1]).

    Das Landgericht Dortmund hat in einem Rechtsstreit um die Rechtmäßigkeit einer Beitragserhöhung in der Urteilsbegründung (Urteil vom 15.02.1996, Gz.: 2 O 374/94) festgestellt: „ Die Erhöhung des Selbstbehaltes im Tarif Ta entspricht der Erhöhung der Grundkopfschäden, die zum Termin März 94 für Männer 30,9% und für Frauen 20% betrugen. Die Erhöhung des Selbstbehaltes um 25% ist damit gerechtfertigt“. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass in diesem Fall eine wesentlich stärkere Erhöhung Willkür wäre.
    (Bei der heutigen Anwendung dieses Urteils ist Nr. VIII zu beachten.)

     
  3. Sehen Tarife prozentuale Eigenbeteiligungen vor, die durch einen betragsmäßig festgelegten Höchstbetrag begrenzt werden, ab dem die Erstattung auf 100% steigt (Rechnungsgrenzbetrag), so sind auch diese Höchstbeträge als betragsmäßig festgelegte Selbstbehalte aufzufassen (siehe I.). Eine Erhöhung des Rechnungsgrenzbetrages zieht dann eine Erhöhung dieses zahlenmäßig festgelegten maximalen Selbstbehaltes nach sich. Die bei einigen Versicherungsunternehmen in der Technischen Berechnungsgrundlage festgelegten Erhöhungskriterien (etwa: Vergleich von Erstattungsquote mit festgelegtem Grenzwert. Meldung mit den Auslösenden Faktoren) zeigten in der Vergangenheit, dass ein durch diese Kriterien angezeigter Erhöhungsbedarf durchaus in größeren Zeitabständen erfolgte, als bei „normalen“ absoluten Selbstbehalten. Liegt ein derartiges Kriterium vor, ist die Angemessenheit der Erhöhung leicht nachzuweisen.

     
  • In gleicher Weise, wie versäumte Prämienanpassungen nicht auf Kosten der Versicherten nachgeholt werden dürfen, gilt dies auch für Selbstbehalte:  

Die Anpassung eines Selbstbehaltes muss zum Anpassungszeitpunkt gerechtfertigt sein (s.o.). In der Vergangenheit eventuell mögliche jedoch nicht durchgeführte Erhöhungen dürfen nicht nachgeholt werden. Die Erhöhung eines Selbstbehaltes darf grundsätzlich die notwendige (durchschnittliche) Beitragsänderung nicht überschreiten.

Drastische Selbstbehalterhöhungen in größeren Abständen sind mit starken Prämienerhöhungen in größeren Zeitsprüngen zu vergleichen und widersprechen so ebenfalls dem Sinn der Beitragsanpassungsklausel. Wurden somit über einen längeren Zeitraum die Selbstbehalte nicht verändert, trotz mehrerer Beitragsanpassungen, so kann ihr ursprünglicher „Wert“, ihre „bei der Kalkulation berücksichtigte prämienmindernde Wirkung“ nicht wiederhergestellt werden, und es kann für diese und alle weiteren Anpassungen der Zukunft nur vom „Jetztwert“ der Selbstbehalte ausgegangen werden.

Wird von nun an die Entwicklung der Selbstbehalte mehr oder weniger „verstetigt“, so ist die Einführung weiterer Tarife mit höheren Selbstbehalten in Zukunft zumindest unter dem Angebotsgesichtspunkt bei Anpassungen überflüssig. Allerdings kann auf Grund der Marktbedeutung von Tarifen mit niedrigen Selbstbehalten eventuell eine „Ergänzung nach unten“ erforderlich werden.

 

  • In den vielen Unternehmen wurden über Jahre die betragsmäßig festgelegten Selbstbehalte je Tarif einheitlich für Männer und Frauen, sowie Kinder und Jugendliche (hier oft gemindert) festgesetzt. Oft entwickeln sich jedoch die Schadenquotienten verschiedener Geschlechter durchaus unterschiedlich, was unter Beachtung des Urteils des BGH vom 16.06.2004 häufig zu differierenden Anpassungszeitpunkten führt. Eine tarifeinheitliche Festlegung der Selbstbehalte wäre daher vielfach nur in größeren Zeitabständen möglich und nur dann, wenn die Rechtsbasis für die Anpassung aller Geschlechter eines Tarifs gegeben ist. Eine Selbstbehaltanpassung auf der Basis von § 203 g Abs. 3 VVG erscheint kaum vorstellbar.

    Zur Aufrechterhaltung des oben postulierten Zweckes betragsmäßig festgelegter Selbstbehalte und unter Beachtung der unter VII. angegebenen Grundsätze erscheint es nahezu unumgänglich, die Auffassung tarifeinheitlicher Selbstbehalte aufzugeben, abgesehen davon, dass technisch diesbezüglich keine Probleme bestehen. Die unter VII. formulierten Grundsätze sind entsprechend zu interpretieren.

[1]

Behne, Jürgen, Anmerkungen zu Tarifen mit absolutem Selbstbehalt in der Privaten Krankenversicherung, Blätter der Deutschen Gesellschaft für Versicherungsmathematik Band XVII (1986)
 

[2]

Nova Krankenversicherung, Selbstbeteiligung im Gesundheitswesen, Gustav-Fischer-Verlag 1980